Ein unaufgearbeitetes Verbrechen
Die jüngste Publikation eines Tonbands von August 1988, auf dem Ayatollah Montazeri die Massenhinrichtungen in den iranischen Gefängnissen kritisiert, wirft erneut ein Schlaglicht auf eines der dunkelsten Episoden der Islamischen Republik. Besonders brisant ist, dass die damals Verantwortlichen für die Massaker heute teils hohe Posten innehaben.
Mit der Veröffentlichung eines Audiomitschnitts Anfang August, in dem Ayatollah Hossein-Ali Montazeri die Massaker an den Volksmudschaheddin im Sommer 1988 verurteilte, rückt ein historisches Ereignis ins Schlaglicht, das bis heute nur unzureichend ausgeleuchtet ist. Die heftige Reaktion konservativer Medien auf die Aufnahme, die von Ahmad Montazeri, dem Sohn des verstorbenen Geistlichen und Dissidenten auf die Website seines Büros gestellt wurde, zeigt, wie empfindlich die Hardliner noch heute auf jeden Versuch reagieren, Licht auf dieses sensibles Thema zu werfen – und wie sehr Montazeri auch sieben Jahre nach seinem Tod noch immer Sprengstoff bietet.
Auf der 40-minütigen Aufnahme, die inzwischen wieder von der Website entfernt wurde, ist laut Al-Monitor zu hören, wie Montazeri mit der Vierergruppe spricht, die im Teheraner Evin-Gefängnis verantwortlich war für die Durchführung der Morde an den Häftlingen. „Das größte Verbrechen in der Islamischen Republik, das von der Geschichte verurteilt werden wird, geschah durch eure Hände“, sagte in der Aufnahme Montazeri, der damals noch Khomeinis designierter Nachfolger als Revolutionsführer war und als sein Stellvertreter zuständig für die Gefängnisse.
Verantwortlich in Teheran waren der Scharia-Richter Hossein Ali Nayeri, Teherans Staatsanwalt Morteza Eshraqi, sein Vize Ebrahim Raisi und der Vize-Geheimdienstminister Mostafa Pur-Mohammadi. Nicht die geringste Brisanz des Tonbands liegt darin, dass Nayeri heute Vizepräsident des Obersten Gerichtshofs ist, Pur-Mohammadi Justizminister und Raisi seit März die extrem einflussreiche und reiche Stiftung Astan-e Qods-e Razavi in Maschhad führt.
Unbekannt war deren Rolle bei den Massakern freilich nicht. Montazeri hatte schon in seinen 2001 veröffentlichten Memoiren detailliert über die damaligen Geschehnisse berichtet – und damals mit diesen Enthüllungen für noch weit größeren Wirbel gesorgt. Nicht zuletzt, weil er auch erstmals Khomeinis geheime Anordnung zu den Hinrichtungen veröffentlicht hatte.
Hintergrund des Dekrets war die Invasion der Volksmudschaheddin im Iran. Kurz vor Inkrafttreten des Waffenstillstands Ende Juli 1988, mit dem Irans achtjähriger Krieg mit dem Baath-Regime Saddam Hussein zu Ende ging, hatte die iranische Oppositionsgruppe mit Unterstützung der irakischen Luftwaffe eine letzte Offensive im Westen des Irans gestartet.
Der Vorstoß war rasch gestoppt worden, doch wutentbrannt ordnete Khomeini an, dass sämtlich inhaftierten Anhänger der Volksmudschaheddin hingerichtet werden, wenn sie an ihren politischen Überzeugen festhielten. In dem Dekret, das ich in englischer Übersetzung in meinem Buch zitiert habe, hieß es:
„As the treacherous monafeqin [Mojahedin] do not believe in Islam and what they say is deceptive and hypocritical, […] as they are waging war on God, as they are engaging in classical warfare in the western, the northern and the southern fronts, as they are collaborating with the Baath Party of Iraq and spying for Saddam against our Muslim nation […], it is decreed that those who are in prison throughout the country and remain steadfast in their support for the monafeqin, are waging war on God and are condemned to execution. […] Those who are making the decisions must not hesitate, nor show any doubt or be concerned with details. They must try to be ‘most ferocious against infidels.’ To have doubts in matters of revolutionary Islam is to ignore the pure blood of martyrs.“
Als Montazeri von dieser ungeheurlichen Anweisung erfuhr, die letztlich alle Anhänger der Oppositionsgruppe zu Ungläubigen erklärte, versuchte er zunächst, bei dem Leiter der Justiz zu intervenieren. Montazeri, der selbst wegen seiner Aktivitäten im Widerstand gegen das Schah-Regime jahrelang inhaftiert gewesen war, empörte, dass die Gefangenen nach Schnellverfahren zum Tode verurteilt wurden, ohne überhaupt zu wissen, was auf dem Spiel stand.
Viele der Häftlinge waren junge junge Männer und Frauen, die verurteilt worden waren, weil sie Flugblätter verteilt hatten oder im Besitz von Schriften der Volksmudschaheddin gewesen waren. Da Montazeri sah, dass all seinen Interventionen vergeblich waren und die Exekutionen ungebremst weitergingen, entschied er, sich persönlich an Khomeini zu wenden. In einem Brief an seinen Mentor und Freund, dem er jahrzehntelang treu gedient hatte, schrieb er:
„The execution of those arrested during the recent events [the invasion] is accepted by the nation and society and apparently has no contrary effect. However, the execution of those who have been imprisoned for a long time will under the present circumstances be seen as revenge and disappoint and hurt many families generally loyal to the revolution. […] The execution of several thousand people in a few days is not an appropriate reaction and errors cannot be ruled out […]. ‘It would be better for an Imam to wrongly forgive than to wrongly punish.’“
Da der Brief ohne Reaktion blieb, wandte sich Montazeri nach wenigen Tagen in einem zweiten Schreiben an Khomeini, in dem er ihm von den Eilverfahren berichtete, mit denen die Häftlinge zum Tode verurteilt wurden. Doch Khomeinis Sohn Ahmad, der das Büro des greisen Revolutionsführers leitet, sagte ihm lediglich, er solle sich keine Sorgen machen: Gott werde die Mudschaheddin bestrafen. Daraufhin entschloss sich Montazeri, die vier Verantwortlichen für die Exekutionen in Teheran zu sich zu rufen. Von diesem Treffen stammt wohl die Audioaufnahme.
In dem Gespräch mit Nayeri, Eshraqi, Raisi und Pur-Mohammadi forderte Montazeri – der seit einigen Jahren die Aufsicht über die Gefängnisse hatte und für Begnadigungen zuständig war – sie auf, die Hinrichtungen umgehend zu stoppen. Doch sie antworteten, erst wollten sie noch einige Hundert exekutieren, die sie bereits verurteilt hatten. Wütend entgegnete Montazeri, die Hinrichtung von Menschen, die wegen geringer Vergehen verurteilt worden waren, verstoße gegen das Gesetz und den Islam und werde letztlich nur den Volksmudschaheddin nutzen:
„It is wrong to combat ideas and thoughts by executions [. . .]. The Mojahedin-e Khalq are not a person, but rather a way of thinking. It is a kind of logic, and one must confront the wrong logic with the correct logic and the correct arguments. Killings will not make it disappear but rather encourage it.“
Letztlich waren alle Interventionen Montazeris umsonst, da seine Position zu diesem Zeitpunkt bereits zu sehr geschwächt war, als dass er seinen Willen hätte durchsetzen können. Anfang September ordnete Khomeini sogar in einem zweiten Dekret an, auch die inhaftierten Kommunisten zu exekutieren. Insgesamt wurden bis Ende September oder Anfang Oktober nach Schätzung Montazeri zwischen 2800 und 3800 Häftlinge ermordet. Genaue Zahlen sind bis heute unbekannt und bis heute erkennt das Regime die Morde nicht an.
Montazeri war der einzige ranghohe Vertreter des Regimes, der gegen die Massenhinrichtungen protestierte – und der Preis war hoch. Nachdem sich die Beziehungen zu Khomeini wegen seiner Kritik an der Menschenrechtspolitik und seinem Ruf nach einer Reform des Systems weiter verschlechtert hatten, wurde Montazeris Ende März 1989 abgesetzt. Auslöser war die Veröffentlichung seiner Briefe an Khomeini durch die BBC, in denen er gegen die Massaker protestiert hatte. Wie die Briefe an die BBC gelangten, ist bis heute ungeklärt.