Warum Atatürks Revolution unvollendet blieb

Mustafa Kemal hatte mit der Reform von Schrift, Kleidung und Kultur die Türkei nach dem Bilde Europas umformen wollen, doch blieb seine autoritäre Revolution unvollendet. Jenseits der kemalisitischen Eliten blieb die Kultur der einfachen Leute durch den Islam und die Tradition geprägt – eine Kultur, die mit Erdogan nun in die Öffentlichkeit zurückkehrt.

Die Zulassung des Kopftuchs an den Universitäten, die Einschränkung der Werbung für Alkohol, dazu die Zunahme religiöser Rhetorik in der Politik, demonstrativ betende Politiker und Rufe nach Rückumwandlung der Hagia Sophia in eine Moschee – der Islam gewinnt in der Türkei zweifellos wieder an Bedeutung in der Öffentlichkeit. Was oft als Reislamisierung der Gesellschaft beschrieben wird, erscheint mit aber weniger als Rückbesinnung der Bevölkerung auf den Islam, als das Erstarken einer sozialen Schicht, deren Kultur immer durch den Islam geprägt war.

Seit der Übernahme der Regierung durch die AKP Erdogans sind es nicht länger die säkularen kemalistischen Eliten, die in der Öffentlichkeit den Ton angeben und mit ihren kulturellen, sozialen und moralischen Vorstellungen den Diskurs bestimmen, sondern eine stärker religiös geprägte Schicht, die diese Werte niemals angenommen hatte, doch lange so marginalisiert war, dass sie keine Rolle in der Öffentlichkeit spielte. Der Erfolg der AKP liegt wohl auch darin, dass sie jenen eine Stimme gegeben hat, die die Kemalisten auf ihrem Weg nicht mitgenommen haben.

Nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reichs 1919 war Mustafa Kemal überzeugt, dass die Zukunft der Türken in Anatolien liegt, doch zugleich glaubte er als Junge aus Saloniki, der an den säkularen Schulen des Militärs sozialisiert worden war, dass die Türkei Teil Europas ist – oder es doch werde müsse. Wie der Historiker Sükrü Hanioglu schreibt, war für Kemal Mode, Musik, Theater und Architektur nicht nur äußerlicher Ausdruck einer Zivilisation, sondern selbst die Voraussetzung für ein Volk, den gleichen Stand der Zivilisation zu erreichen.

Nachdem er im Handstreich Sultanat und Kalifat abgeschafft hatte, machte sich Kemal daher daran, die türkische Kultur nach dem Vorbild Europas umzuformen. In der neuen Hauptstadt Ankara ließ er umgehend eine Oper bauen, gründete Orchester und beauftragte Komponisten mit der Schaffung neuer Werke im Stil der europäischen Musik. Den Rundfunk wies er 1934 an, nur noch europäische Musik zu spielen – was freilich dazu führte, dass die meisten Türken zu Radio Kairo umschalteten, um weiter ihre gewohnte Musik hören zu können.

Anders als die Reformer der Tanzimat-Periode begnügte sich Kemal nicht damit, neue Institutionen neben die alten zu stellen, sondern schaffte diese komplett ab. So verbot er 1925 über Nacht den Fez und verdonnerte alle Beamten, fortan einen Hut zu tragen, den er als einzige zivilisierte Kopfbedeckung betrachtete. Da der Hut aber als Zeichen der Christen galt, erschien dies vielen Männern wie ein Abfall vom Islam – ein Aufstand war die Folge. Autoritärer Diktator, der er war, duldete Kemal aber keinen Protest und ließ die Anführer der Anti-Hut-Proteste aufhängen.

Atatürk begnügte sich aber nicht mit der Übernahme äußerer Elemente der europäischen Kultur, sondern strebte auch danach, so grundlegende Dinge wie Schrift, Sprache und das Verständnis von Zeit zu reformieren. 1925 wurde der gregorianische Kalender eingeführt, womit nicht länger die Hidschra des Propheten, sondern die Geburt Christi der Referenzpunkt war. Etablierte Bezüge und Redewendungen verloren ihre Bedeutung. Noch einschneidender aber war die Reform von Sprache und Schrift, da sie die Türken von ihrer eigenen Geschichte abschnitt.

Binnen kurzer Zeit wurden Zeitungen und staatliche Veröffentlichungen von der arabisch-osmanischen, auf die lateinische Schrift umgestellt. Zugleich gab es Bemühungen, persische und arabische Lehnwörter durch „echte“ türkische Worte zu ersetzen. Die Folge war, dass viele Türken die Zeitungen nur noch mit einem Wörterbuch Türkisch-Osmanisch lesen konnten. Doch so hart die Umstellung, so erfolgreich war sie – der Preis war freilich, dass die Türken binnen einer Generation ihre alten Bücher weder lesen, noch verstehen konnten.

Überzeugt, dass es nur eine Zivilisation und eine Moderne gibt und diese europäisch ist, wollte Atatürk die Türkei nach dem Vorbild Europas umformen. Seine radikalen Reformen, die er im Hauruckverfahren mit großer Härte durchsetzte, veränderten das Land grundlegend, doch blieben sie auf die gebildeten Eliten in Ankara und Istanbul beschränkt. Weder gelang es Kemal, die Europäer zu überzeugen, die Türkei als vollwertigen Teil Europas anzuerkennen, noch schaffte er es, die breite Bevölkerung auf seinem Weg mitzunehmen – so blieb seine kulturelle Revolution unvollendet.

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