Beobachtungen am Bosporus IV.

Als ich letztens in der Uckermark bei meinem bevorzugten Buchhändler vorbeischaute, fand ich eine kleines Buch eines deutschen Korrespondenten in Istanbul mit Reportagen, Analysen und Berichten über die Türkei. Normalerweise interessieren mich solche Artikelsammlungen nicht, da sie ihrem Wesen nach selten über das hinausgehen, was man in den vergangenen Jahren bereits in den Zeitungen hat lesen können. Doch war dieses Buch von 1997 und mit 20 Jahren Abstand sind solche Artikel doch wieder spannend, da sie ungefiltert vermitteln, wie das Land damals gesehen wurde.

Gleich zu Beginn zitiert der Autor Ömer Erzeren aus einem Artikel von Januar 1996 des Kolumnisten Ahmet Altan (der heute der Unterstützung einer Terrororganisation angeklagt ist):

„Das Regime in der Türkei mitsamt seinen Parteien, seinen politischen Führern, dem Finanz-, Rechts-, Erziehungs- und Gesundheitssystem bricht mit dem Geräusch eines zerfallenden Gebäudes auseinander, dessen Fundamente wegrutschen. Je schneller der Niedergang verläuft, desto mehr Blut, Schrecken, Barbarei, Terror und Unterdrückung, ruft er hervor. Verbrannte Dörfer, vertriebene Menschen, Gefängnisrevolten, Straßenschlachten (…) und Intellektuelle, die in den Knast geworfen werden – das sind Teile dieses zerbrechenden Gebäudes.“

Diese Einschätzung schien mir zunächst etwas apokalyptisch, doch bestätigten die folgenden Kapitel das Bild eines Landes in einer tiefen Krise. Die Enthüllung 1996 der engen Bande zwischen korrupten Politikern, skrupellosen Sicherheitskräften und mafiösen Verbrecherbanden hatte die herrschenden Parteien grundlegend diskreditiert und dem Geraune von einem „tiefen Staat“ aus Militär, Mafia und Geheimdienst, der hinter den Kulissen die Fäden zieht, eine neue Realität verschafft.

Auch sonst stand es um die Türkei nicht zum Besten: Im Kampf gegen die PKK-Guerilla im Südosten folterte die Polizei selbst Jugendliche, ohne es groß zu verheimlichen. Als alewitische Intellektuelle einen Friedenskongress abhielten, setzte ein islamistischer Mob ihr Hotel in Brand, ohne dass die Polizei einschritt. Und als der Islamist Necmettin Erbakan nach den Enthüllungen über die mafiösen Verwicklungen seiner Vorgängerin als vermeintlicher Saubermann an die Regierung gelangte, intervenierte das Militär.

Nein, schon damals war die Türkei keine heile Demokratie, sondern ein instabiler, chaotischer oft autoritärer Staat, in dem das Militär übermäßigen Einfluss auf die Politik ausübte, und gesellschaftliche Konflikt oft gewaltsam ausgetragen wurden. Auch damals wurden Journalisten ins Gefängnis geworfen, Gerichtsverfahren waren oft politisch motiviert und oppositionelle Politiker mussten um ihr Leben und ihre Freiheit fürchten. Schwache Koalitionsregierungen lösten einander ab, ohne die grundlegenden Problemen zu lösen.

Dass es früher auch nicht besser war, macht das Abgleiten des Landes in die Autokratie heute nicht weniger besorgniserregend. Doch verändert es die Perspektive, wenn man weiß, dass viele der Freiheiten, die Erdoğan gerade demontiert, erst von ihm geschaffen wurden. Und es erklärt, warum viele Türken Erdoğan sein autoritäres Gehabe, die Korruption und die Repressionen verzeihen (die gab es früher auch schon), solange er weiter für eine stabile Wirtschaft, gute Straßen und funktionierende Krankenhäuser sorgt (die gab es früher nicht).

Auch wenn Erdoğan derzeit auf bestem Wege ist, nicht nur den gesellschaftlichen Frieden, sondern auch die wirtschaftliche Stabilität zu zerstören, bleibt er doch für viele Türken der Mann, der ihrem Land Wohlstand, Respekt und Stärke gebracht hat. Für die Angehörigen der religiös-konservativen Mehrheit ist er zudem der Politiker, der ihnen das Gefühl zurückgegeben hat, dass dies ihr Staat ist, nachdem die säkulare, westliche Staatselite sie über Jahrzehnte ausgegrenzt hatte.

Wie konservativ die Türkei noch immer ist, kann ich in meinen Hipster-Cafés in Galata, Besiktas und Kadiköy leicht vergessen. Zwar ist mir völlig bewusst, dass diese Viertel Istanbuls mit ihren Cafés, Bars und Galerien eine liberale, säkulare Enklave sind, die in keiner Weise repräsentativ für die Türkei ist, doch als ich kürzlich in der Zeitung die Ergebnisse einer Studie zur türkischen Gesellschaft las, war ich nicht nur davon erstaunt, dass ich mit meinem Gehalt als freier Journalist unter die reichsten vier Prozent der Bevölkerung falle.

Laut dieser Studie stufen sich selbst 74 von 100 Türken als „traditionell konservativ“ oder „religiös konservativ“ ein und sagen, sie erfüllten alle religiösen Pflichten (auch wenn nur 47 tatsächlich regelmäßig beten und 54 im Ramadan fasten). Nur 18 von 100 Frauen sind berufstätig (und etwa 80 von 100 Frauen tragen laut anderen Studien ein Kopftuch). Von 100 Türken sind 70 verheiratet, vier sind verwitwet, eine/r ist verlobt und eine/r ist geschieden und – für mich am verblüffendsten – jede zweite Ehe in der Türkei ist arrangiert.

Diese konservative Mehrheit erklärt, warum Erdoğan so bald nicht den Verlust seiner Macht fürchten muss, und warum es für Oppositionsführer Kilicdaroglu so schwer ist, die nötigen 50 Prozent plus eins zu erlangen, um Erdogan abzulösen. Zwar hat Kilicdaroglus „Marsch für Gerechtigkeit“, der Anfang Juli mit einer Abschlusskundgebung vor über einer Million Menschen in Istanbul endete, das Ausmaß des Unmuts in der Gesellschaft offenbart und der Opposition neuen Mut gegeben.

Doch der CHP-Vorsitzende wird Erdoğan nur ernsthaft gefährlich werden können, wenn er seine Wählerbasis erweitert. Bisher wird seine Partei von der säkularen, westlichen Mittelschicht gewählt. Um eine Mehrheit zu erhalten, muss die Partei auch religiöse und kurdische Wähler erreichen. Dafür müsste sie die Dichotomie aus religiös-konservativ gegen westlich-säkular aufbrechen, die seit Jahrzehnten die politische Auseinandersetzung bestimmt. Ob das der alten kemalistischen Staatspartei gelingt, ist aber fraglich.

Mein Fundstück aus der Uckermark zeigt auf jeden Fall, dass die Rettung der Türkei nicht in der Rückkehr in die Vergangenheit liegen kann. Dafür war die alte kemalistische Republik mit ihrem Personenkult um Atatürk, ihrer Überhöhung des Militärs und ihrer Verklärung des Säkularismus zur Staatsideologie, die oft genug vor allem einer westlichen Staatselite zum Ausschluss ihrer religiösen Landsleute von der Macht und den Ressourcen des Staates diente, zu autoritär, korrupt und konfliktreich.

Die Yeni Türkiye, die Erdoğan schaffen will, ist freilich auch nicht die Lösung. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass Erdoğan in seinem Politik- und Staatsverständnis selbst ein Kind der alten Republik ist. So wie Republikgründer Atatürk einst den Staat nutzte, um seine Vorstellung einer modernen, säkularen, westlichen Gesellschaft durchzusetzen (notfalls gegen das Volk), nutzt Erdoğan nun den Staat, um dem Volk seine islamischen Wertvorstellungen und seinen konservativen Lebensstil aufzuzwingen.

So gilt weiterhin, was mein Türkei-Korrespondent 1997 schon schrieb: Die Türkei ist „ein Land in der Zerreißprobe“.

16. August 2017

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