Was vom vereitelten Attentat 1926 zu lernen ist

Erdogan ist nicht der erste, der in der Türkei eine feindliche Verschwörung nutzt, um so richtig mit seinen Gegnern aufzuräumen. Schon Atatürk nahm ein Mordkomplott zum Anlass, die letzten seiner Widersacher und Kritiker aus dem Weg zu schaffen, um freie Bahn zu haben für den radikalen Umbau von Staat, Kultur und Gesellschaft.

Recep Tayyip Erdogan unterscheidet sich in vielerlei Hinsicht vom türkischen Staatsgründer Mustafa Kemal. War dieser ein Verächter des Islam, der seinen Landsleuten den europäischen Hut, die lateinische Schrift und den Säkularismus verordnete, ist Erdogan ein frommer Muslim und ein Mann des Volkes, der wenig von der elitären Kultur der Kemalisten hält. Doch beide Männer eint ihr instrumentelles Verständnis von Demokratie, ihr Wille zur Macht und ihr Gespür für den richtigen Moment in der Politik. Angesichts von Erdogans Vorgehen nach dem gescheiterten Militärputsch vom 15. Juli 2016 lohnt sich ein Blick darauf, wie Kemal auf das vereitelte Attentat vom 15. Juni 1926 reagierte.

An diesem Tag wurde in Izmir eine Verschwörung aufgedeckt, in den Straßen der westtürkischen Hafenstadt ein Bomben- und Pistolenattentat auf den Präsidenten der Republik zu verüben. Der Plan flog auf, weil eine der Beteiligten kalte Füße bekam, und die Gruppe der Verschwörer wurde umgehend in ihren Hotels festgenommen. Der Plan war gescheitert und die Gefahr gebannt, doch begriff Mustafa Kemal sofort die Chance, die die Verschwörung bot, um die Reste der Opposition auszuschalten, die die vorherigen Wellen der Repression überlebt hatten.

Kemal hatte bereits 1924 die Monarchisten und anderen Anhänger des alten Regimes verbannt und 1925 auch kritische Journalisten, Politiker und Intellektuelle verurteilen lassen. Der US-Hochkommissar in Istanbul schrieb dazu im Mai 1925 nach Washington:

„[Die Regierung in] Ankara ähnelt immer mehr dem Vorbild der Tscheka [die sowjetische Staatssicherheit]. Ihr Ziel ist es scheinbar, jede politische Opposition zu beseitigen. Ihre Methode ist es, aufgrund einer vorgefassten Politik zu verurteilen und nicht aufgrund der vorgelegten Beweise. Ihre Opfer sind neben einfachen Bürgern Männer von Einfluss und Rang. Sie hat nicht nur Redakteure wegen des anstößigen Gebrauchs eines Wortes vor Gericht gestellt, sondern wegen einer Geisteshaltung. Es ist ihr gelungen, die Presse so zu terrorisieren, dass die krasseste Ungerechtigkeit nicht kritisiert wird. Sie hat die Opposition so terrorisiert, dass sie nicht länger gegen ihre Verfassungswidrigkeit protestiert.“

Doch trotz dieser Welle der Repression blieb noch die innere Opposition. Als Held des türkischen Unabhängigkeitskriegs genoss Mustafa Kemal zwar breites Ansehen in der Bevölkerung, doch war er wegen seines autoritären Kurses im eigenen Lager umstritten.

Nach dem vereitelten Attentat ordnete Mustafa Kemal umgehend an, die berüchtigten Unabhängigkeitsgerichte wiederzubeleben, mit denen während des Kriegs gegen die Griechen Verräter abgeurteilt worden waren. Gegen den Widerstand seines sonst treuen Regierungschefs Ismet Inönü drang Kemal darauf, auch seine einstigen Weggefährten Kazim Karabekir, Ali Fuat Pascha und Refet Pascha, die es gewagt hatten, die erste Oppositionspartei des jungen Staates zu gründen, wegen angeblicher Beteiligung an dem Mordkomplott vor Gericht zu stellen.

Letztlich wagte das Gericht es nicht, diese Oppositionspolitiker, die als frühere Generäle im Unabhängigkeitskrieg noch immer großes Ansehen im Militär genossen, zum Tode zu verurteilen. Auch bemühten sich die Richter gar nicht ernsthaft, ihre Verwicklung in die Attentatspläne zu beweisen, doch wurden sie unter Hausarrest gestellt und damit effektiv aus der Politik verbannt. Damit war es Kemal durch die geschickte Instrumentalisierung des Mordkomplotts gelungen, die letzten Reste der Opposition zu eliminieren und jegliche Kritik zum Schweigen zu bringen.

Gerüchte, Kemal habe die Verschwörung selbst inszeniert, konnten ebenso wenig bewiesen werden, wie die Vorwürfe, Erdogan habe den Militärputsch selbst geplant. Doch ebenso unzweifelhaft es ist, dass der Umsturzversuch für Erdogan ein willkommener Anlass war, die schon länger geplante Säuberung des Staatsapparats von den Anhänger seines langjährigen Weggefährten und heutigen Rivalen Fethullah Gülen durchzuziehen, so klar ist es, dass für Kemal das Mordkomplott ein praktischer Vorwand war, um seine Gegner zum Schweigen zu bringen.

Nach der Ausschaltung der letzten Opposition war es Mustafa Kemal möglich, trotz des Murrens der großteils konservativen Bevölkerung im Eilverfahren und ohne größeren Widerstand im Parlament so revolutionäre Reformen durchzusetzen, wie die Aufgabe der Scharia als Grundlage des Rechts, die Abschaffung der arabischen Schrift, die Einführung des christlichen Kalenders, die Säuberung des Türkischen von persischen und arabischen Lehnwörtern bis hin zur Übernahme der europäischen Musik und Kleidung. Wofür Erdogan den Putschversuch noch nutzen wird, bleibt abzuwarten.

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