Beobachtungen am Bosporus III.
Kürzlich hat an der Ecke wieder ein Café zugemacht. Von einem Tag auf den anderen war es dicht, gerade kriegte ich noch mit, wie sie die Möbel hinaustrugen. In dem sympathischen Klamottenladen am Anfang der Straße sehe ich zumindest noch abends manchmal Leute, doch handelt es sich wohl um Freunde der Besitzerin. Auch der kleine Frühstücksladen gegenüber hält noch tapfer durch, doch richtig läuft er nicht mehr, seitdem das Hostel nebenan geschlossen hat. Ich nehme mir immer vor, bald mal wieder hinzugehen, doch mag ich dort auch nicht essen, wenn sonst niemand da ist.
Die Zahl der europäischen Touristen sei um 95 Prozent zurückgegangen, meinte der Inhaber des Ladens mit den schönen Seidenstoffen an der Straße hinunter zur Galata-Brücke. Früher sei sein Geschäft gut gelaufen, heute dagegen würden einzig die Araber noch nach Istanbul kommen, doch interessierten die sich nicht für Naturstoffe – zu wenig Glitzer. Er öffnet inzwischen erst um elf und hofft auf bessere Zeiten, die er selbst weiß, sobald nicht wieder kommen werden.
„Ist es nicht schön, dass man wieder die Musiker hört, die Eisverkäufer? Früher nahm ich sie in dem ganzen Trubel nicht mehr wahr“, sagte meine Nachbarin tapfer, als ich sie kürzlich auf der Straße traf. Früher betrieb sie ein gut laufendes Geschäft, indem sie Wohnungen mit Bosporus-Blick an Wochenendtouristen vermietete, doch seit Beginn der Krise voriges Jahr hat sie ihr Geschäft drastisch zurückgefahren. Bald wird sie auch ihr Büro nebenan räumen müssen.
Nicht nur die Touristen bleiben fern, auch Austauschstudenten, Gastwissenschaftler und Kunststipendiaten kommen weniger – ganz zu schweigen von politischen Delegationen. War früher jeder Vorwand recht, um einige Tage in Istanbul zu verbringen, die als neue Kultur- und Partystadt gefeiert wurde, meiden die Europäer sie nun – und das nicht nur wegen der Anschlagsgefahr.
Gerechtfertigt findet meine Nachbarin es nicht, dass die Besucher wegbleiben, schließlich sei Istanbul doch noch immer so reizvoll wie früher. Verstehen könne sie es aber schon, wenn ständig nur Negatives über die Türkei in den Medien laufe. Und da dachte ich, sag ruhig, dass ich mit Schuld daran bin, dass die Touristen fern bleiben. Schließlich mache ich die Nachrichten mit.
Doch obwohl ich als Korrespondent in Istanbul mitverantwortlich bin, verfolge ich mit einem gewissen Unbehagen die Debatte über die Türkei in Deutschland. Obwohl ich von der Aufmerksamkeit profitiere, die derzeit dem Land entgegengebracht wird, erscheint mir die Berichterstattung bisweilen hysterisch und die Diabolisierung Erdoğans regelrecht pathologisch.
Die Verurteilung Erdoğans und der Türken finde ich oft pauschal, arrogant und zu einfach. Ganz lässt mich der Verdacht nicht los, dass die Empörung nicht allein der Liebe zur Demokratie geschuldet ist, sondern auch einer Verachtung für die Türken und einer gewissen Häme nach dem Motto: Seht, wir haben doch schon immer gewusst, dass die nicht zu Europa gehören.
Auch vielen meiner Kollegen ist es nicht recht wohl bei der aktuellen Berichterstattung. Da wir als Korrespondenten aber nicht ganz unschuldig am Türkei-Bild der Deutschen sind, stellt sich die unangenehme Frage, wie weit wir als Journalisten aus Bequemlichkeit den eingeführten Narrativen folgen und unreflektiert die etablierten Bilder bedienen.
Zwar geht uns allen der Fokus auf Erdoğan auf die Nerven, doch haben wir keinen Wahlkampfauftritt vor dem Referendum ausgelassen, falls der große Meister doch was wichtiges sagt – auch wenn sich seine Reden in Inhalt und Inszenierung zum Verwechseln ähnelten. Am Ende konnte selbst ich die wichtigsten Passagen mitsprechen.
Oft ist es schwer, als Journalist der Zuspitzung, der Vereinfachung und dem Rückgriff auf etablierte Narrative zu widerstehen, wenn es gilt, in der Eile einen Artikel fertig zu machen oder ein Thema zu verkaufen. Oft ist es einfacher, einen Text an den Mann zu bringen, der den Erwartungen der Redakteure entspricht, als einer, der dem gängigen Diskurs zuwiderläuft.
Ein Freund sagte, er könnte derzeit seiner Redaktion jede Geschichte über den Niedergang der türkischen Wirtschaft verkaufen. Einen Artikel darüber, dass in Wahrheit gar nicht die große Krise drohe, sondern die Wirtschaft trotz der politischen Turbulenzen relativ stabil sei, wolle dagegen niemand nehmen – obwohl es doch letztlich viel interessanter ist.
„Only bad news is good news“, heißt es im Nachrichtenbusiness. Zwar bin ich wie viele meiner Agenturkollegen die ewigen Berichte über Kriege, Krisen und Katastrophen leid, doch wenn eine Nachricht keinen Konflikt enthält, betrachte auch ich sie nicht als Nachricht. Die Folge ist, dass ich aus der Türkei einen stetigen Strom negativer Nachrichten verbreite.
Nun ist es natürlich nur allzu wahr, dass derzeit in der Türkei kaum eine Woche vergeht, in der nicht weitere Journalisten inhaftiert, Beamte entlassen und Wissenschaftler auf die Straße gesetzt werden, weil sie Frieden mit den Kurden gefordert, ihre Kinder auf eine Gülen-Schule geschickt oder einfach nur die Politik der Regierung kritisiert haben.
Und dennoch ist die Türkei mehr als dies.
„Wenn ich das schon höre, wenn Freunde mich am Telefon fragen: Und, wie ist die Lage?“, rief ein deutscher Bekannter bei einem Glas Wein auf der Dachterrasse, während die Sonne über dem Goldenen Horn unterging. „Wie soll die Lage schon sein? Wir sind hier nicht im Bürgerkrieg. Es wird auf der Straße nicht geschossen, es brennen keine Barrikaden und Strom haben wir auch.“
In Wahrheit sei Istanbul doch wie „Kreuzberg am Meer“, schrieb ein Freund kürzlich in einem Artikel, indem er darüber reflektierte, warum ihn niemand mehr besuchen wolle. Auch sei es völlig falsch, die Türkei aus Abneigung gegenüber Erdoğan zu boykottieren, schließlich habe gerade die Hälfte der Türken gegen dessen Allmachtspläne gestimmt – in Istanbul sogar noch mehr.
„Lasst sie nicht allein mit diesem bösen alten Mann“, schrieb auch der frühere Istanbul-Korrespondent Kai Strittmatter in der SZ. Auch wenn sich Erdoğan in die „nachgerade fantastische Romanfigur“ des „kaltblütigen und einsamen Herrscher in den endlosen Hallen seines Schlosses“ verwandele, dem sich „das halbe Volk selbst zum Fraß vorwirft und die andere Hälfte als Opfer darbringt“, rate er: „Fahrt in die Türkei. So oft ihr könnt.“
Unten in meinem Haus hat übrigens vor einigen Tagen ein Schokoladencafé aufgemacht. „Willy Wonkers Chocolate“. Völliger Wahnsinn, in dieser Straße zu dieser Zeit ein solches Café aufzumachen, doch war es wohl ein lange gehegter Traum der Besitzer. Ich habe mir nun fest vorgenommen, ganz viel Schokolade zu essen. Denn ich denke, man sollte die Leute in der Türkei unterstützen, die es in dieser Zeit noch wagen, Träume zu haben.
21. Mai 2017