Beobachtungen am Bosporus II.

Das neue Jahr begann mit einem leisen Brummen. Ich war gerade von der Silvesterparty bei dem Istanbuler ARD-Korrespondenten nebenan nach Hause gekommen und nach einigen Gin Tonic nicht mehr ganz nüchtern, als ich die erste Eilmeldung auf dem Handy erhielt: „Angriff auf Istanbuler Nachtclub: Tote und Verletzte“. Gerade erst drei Wochen war es her, dass sich zwei kurdische Attentäter am Besiktas-Stadion in die Luft gesprengt hatten, nun wollten die Dschihadisten das Silvesterfest offenbar nutzen, um mit dem spektakulären Anschlag auf den bekannten Club am Bosporus-Ufer die Aufmerksamkeit wieder auf sich zu lenken. Blutiger Wettbewerb der Extremisten.

Durch den Anschlag wurde eine zuvor weitgehend unbemerkte Kontroverse über Silvester plötzlich ins Schlaglicht gerückt. Denn wie ich erfuhr, lehnen viele fromme Muslime in der Türkei das Fest als fremde, christliche Tradition ab. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass viele Säkulare zum Jahreswechsel weihnachtliche Elemente wie Tannenbaum und Santa Claus aufgegriffen haben. Islamisten hetzten in den Tagen vor Silvester gegen diese Bräuche, und sogar die Religionsbehörde verurteilte in ihrer Freitagspredigt das Fest als unislamisch.

Angesichts dieser Kontroverse zogen viele Säkulare es vor, Silvester im Stillen zu begehen, statt es an einem öffentlichen Ort zu feiern. So ging der Jahreswechsel denn auch praktisch unbemerkt vorüber – kein Böller zerriss die nächtliche Stille, kein Feuerwerk erhellte den Himmel über dem Bosporus, als wir Deutschen uns auf dem Balkon des ARD-Korrespondenten in Galata um Mitternacht ein frohes neues Jahr wünschten.

Wenige Tage nach dem Anschlag im „Reina“ jährte sich auch der Angriff auf die deutsche Reisegruppe in Sultanahmet, bei dem im Januar 2016 zwölf Menschen getötet worden waren. Mit einem Fotografen und einer Videojournalistin ging ich daher am Morgen auf den Platz vor der Blauen Moschee, um zu sehen, ob es eine Gedenkfeier geben würde. Doch der Platz des antiken Hypodroms lag verlassen im Nieselregen – verlassen bis auf eine Frau, die weinte.

Zuerst wollte sie nicht reden, doch dann willigte sie ein, mit uns einen Tee trinken zu gehen. Es war die türkische Reiseleiterin, die damals die Gruppe geführt und in letzter Minute noch vor dem Attentäter gewarnt hatte. Ein Jahr danach kamen bei ihr alle Erinnerungen wieder hoch: Noch genau sah sie die Gesichter vor der Explosion, hörte das Klicken des Zünders. Heute ist sie praktisch ohne Arbeit, da fast keine Deutschen mehr nach Istanbul kommen.

Nach all dem Terror war ich froh, mich mal wieder einem anderen Thema widmen zu können. Ich hatte gehört, dass es zum orthodoxen Weihnachten am Goldenen Horn eine bizarre Zeremonie geben würde. Um sie nicht zu verpassen, eilte ich schon am Morgen ins griechisch-orthodoxe Patriarchat, wo seit Jahrtausenden der Patriarch von Konstantinopel residiert – heute weitgehend isoliert inmitten des ultrareligiösen muslimischen Viertels Fatih.

Da ich viel zu früh war, hatte ich Gelegenheit, mir in aller Ausführlichkeit den Gottesdienst anzuschauen. Goldglänzende Ikonen, gregorianische Gesänge und viele betagte Geistliche in reich bestickten Gewändern. Nach drei Stunden leicht benebelt von den Weihrauchschwaden war es dann schließlich so weit. In einer langen Prozession ging es ans Ufer des Goldenen Horns, wo frierend auf einem Boot bereits eine Gruppe junger Männer für die Große Wasserweihe wartete.

Was folgte ist in der Bildergalerie auf Qantara zu sehen.

Und dann kam der Schnee. Von Nuri Bilge Ceylans melancholischen Fotos der alten Tram im Schneetreiben, die ich im Istanbul Modern gesehen hatte, wusste ich, dass es auch hier schneien kann. 1954 soll sogar einmal der Bosporus zugefroren sein. Dennoch war ich überrascht, als eines Morgens eine dicke Schicht Schnee die Dächer vor meinem Fenster bedeckte. Sofort griff ich meine Kamera, um Galata in Weiß einzufangen, bevor es wieder taute.

Doch es taute nicht, sondern schneite weiter. Drei Tage lang. Praktisch ununterbrochen, bis die Autos unter hohen Schneehauben versanken, und sich der Schnee auf meinem Fensterbrett 60 Zentimeter hoch türmte. Die Stadt stand still, der Verkehr bewegte sich nur in Zeitlupe, die steilen Gassen in Galata waren unpassierbar. In den Straßen wurden Schneemänner gebaut, und in der Seilbahn über dem Macka-Tal fühlte ich mich wie auf dem Weg zum Skifahren.

Abends auf dem Heimweg durch die verwaisten Straßen von Beyoğlu, während die Flocken durch den gelben Lichtschein der Laternen wirbelten, vermummte Gestalten durch den knöcheltiefen Schnee nach Hause eilten, und die Katzen in leerstehenden Häusern Zuflucht suchten, konnte ich mich wie in einem Roman von Orhan Pamuk fühlen. Doch der Zauber hielt nicht, nach fünf Tagen taute es wieder, das Leben kehrte in die Stadt zurück und mit ihm die Politik.

Mit einer Delegation des Deutschen Anwaltsvereins ging es nach Ankara, um sich einen Eindruck von der Lage der türkischen Justiz unter dem Ausnahmezustand zu machen. Fazit nach drei Tagen Gesprächen mit Anwälten, Abgeordneten und Angehörigen inhaftierter Journalisten: die Unabhängigkeit der Gerichtsbarkeit ist schon heute in Gefahr, und sollte bei dem Referendum im April die Verfassungsreform durchgehen, wird davon gar nichts mehr bleiben.

Zwei Wochen später dann erneut in Ankara, diesmal zum Besuch von Angela Merkel. Als Journalist bedeutet so ein Besuch Texte schreiben im Taxi zwischen zwei Terminen. Dafür hatte ich aber Gelegenheit, einen Blick in Erdoğans Palast zu werfen. Nein, die Wasserhähne sind nicht aus Gold (ich habe extra nachgeschaut), und auch wenn er so prächtig, protzig und goldglänzend ist, wie es allgemein heißt, ist die Architektur nicht völlig uninteressant.

Mit der Zeit wird selbst mir die ständige Beschäftigung mit der Politik zu viel. Doch ihr zu entkommen, ist nicht leicht: Beim Stammtisch mit den Kollegen geht es unweigerlich um die Probleme bei der Akkreditierung, beim Sonntagsbrunch kommt früher oder später das Referendum über das Präsidialsystem zur Sprache, und abends beim Bier wird darüber diskutiert, wie viel lebendiger es früher in den Bars war, als es noch weniger Verbote und nicht so hohe Steuern gab.

Umso froher war ich, über eine Stipendiatin Anschluss an die Kunstszene gefunden zu haben. Abends also Vernissage in einer kleinen Galerie am Galata-Turm, erfrischend unpolitische Fotografien von Zootieren, anschließend mit einigen Weinflaschen ins Atelier eines Malers. Doch dort rasch kam das Gespräch auf die dunklen siebziger Jahre, den Militärputsch vom 12. September 1980 und das drohende Abgleiten des Landes in die Diktatur unter Erdoğan.

Doch zum Glück gibt es noch die Musik. Keine zehn Minuten von meiner Wohnung entfernt habe ich einen feinen kleinen Konzertsaal aufgetan. Zwar sind die Zeiten vorerst vorbei, da sich die Künstler und Kreativen darum rissen, nach Istancool zu kommen, doch ist im „Salon“ noch immer ein höchst sehenswertes Programm zu sehen. Sieht man einmal von den Anspielungen der Bandleader auf „You-know-who-I-mean“ ab, spielt Politik keine Rolle.

Und dann gibt es natürlich noch das Meer. Ein Ausflug auf die Prinzeninseln mit einem der alten Vapur, wo beredete Sonst-Was-Verkäufer die Fahrt verkürzen, um dann über eine der winterlich verlassenen Inseln mit ihren verfallenden Holzvillen, streunenden Katzen und ihren Pferdekutschen zu wandern, lässt einen nicht nur die Debatten über das Präsidialsystem, sondern auch sonst manch anderes vergessen.

Schon Trotzki schrieb: „Prinkipo ist eine Insel des Friedens und der Vergesslichkeit. Das Leben der Welt kommt hier mit großen Verzögerungen an.“

Ich werde bald wieder hinfahren.

12. Februar 2017

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