Beobachtungen am Bosporus I.
Als ich Anfang Dezember in Istanbul ankam, um meine Arbeit als Korrespondent in der Türkei aufzunehmen, standen oben auf der Titelseite der „Cumhuriyet“ die Photos der inhaftierten Journalisten mit der Überschrift „30 Tage in Haft“. Anfang November war die Justiz gegen das publizistische Flaggschiff der Kemalisten unter dem Vorwurf vorgegangen, die Zeitung habe die Bewegung des islamischen Predigers Fethullah Gülen unterstützt, die für den gescheiterten Militärputsch vom 15. Juli verantwortlich gemacht wird. „Absurd“, entgegnete „Cumhuriyet“, schließlich habe sie schon zu Zeiten vor der Gülen-Bewegung gewarnt, als die AK-Partei noch eng mit ihr verbündet war.
In der Türkei wird der Fall der „Cumhuriyet“ genau verfolgt, doch während die Zeitung in Deutschland als Bannerträger der Pressefreiheit gilt, wird sie hier, wie ein Kollege es etwas zugespitzt ausdrückte, eher als Blatt für pensionierte Generäle gesehen. Zwar liegt sie in den Cafés von Cihangir, Galata oder anderen säkular-liberalen Vierteln Istanbuls demonstrativ auf den Tischen, doch gelesen wird sie eher nicht, wie mir Ezgi im Taxi auf dem Weg zum Unterzeichnen des Mietvertrags erklärte.
Meine Wohnungsagentin hatte selber einige Zeit als Journalistin für „Cumhuriyet“ gearbeitet, doch hatte sie den Job nach einiger Zeit aufgegeben, da bei „Cumhuriyet“ nur ein besseres Taschengeld gezahlt wird, wie sie sagte, von dem niemand richtig leben kann (sie arbeitete dann zunächst als Übersetzerin fürs Verteidigungsministerium, wo es ihr aber für ihren Geschmack zu viel ums Töten und Sterben ging, weshalb sie schließlich im Immobilienbereich landete).
Anders als etwa das einflussreiche Massenblatt „Hürriyet“ hat „Cumhuriyet“ keinen großen Wirtschaftskonzern im Rücken, sondern gehört einer Stiftung. Da die Zeitung auch nur eine sehr begrenzte Leserschaft hat, ist sie stets knapp bei Kasse. Manche vergleichen sie daher mit der „taz“, was allerdings irreführend ist im Hinblick auf das Publikum (Stichwort Generäle) sowie die typisch türkische Aufmachung mit vielen fetten Überschriften und bunten Bildern, die eher an die „Bild“ erinnern.
Zwar haben mir meine sechs Wochen Türkischkurs erste Einblicke in die Sprache eröffnet, doch die „Cumhuriyet“ lesen kann ich noch nicht. Genau genommen reicht mein Türkisch bisher nur, die Hinweisschilder in der Metro zu entziffern und einen Kaffee (tr: Cappucino) zu bestellen. Da die Istanbuler bei aller Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft kaum besser Englisch sprechen als ich Türkisch, führt das etwa beim Versuch, ein Bankkonto zu eröffnen, zu einigen Komplikationen.
Auch verstehe ich nur Bruchstücke, wenn die Kollegen in der Redaktion mal wieder den Fernseher laut stellen, weil Erdoğan zur Eröffnung eines Sportstadions/Straßentunnels/Schiffsterminals mal wieder eine Rede hält. Allerdings ist der Tenor der Reden auch zumeist ähnlich: Die Nation steht geeint im Angesicht des Terrors von PKK/Feto/Daesh, und wird sich auch nicht unterkriegen lassen von den ungenannten Mächten, die die türkische Wirtschaft zu ruinieren trachten.
Irgendwann kommt dann der Moment, da Erdoğan ruft „Tek millet, tek bayrak, tek vatan, tek devlet“ (Eine Nation, eine Fahne, ein Land, ein Staat) und dabei mit der Hand das Vier-Finger-Symbol formt, das er als Zeichen des Widerstands gegen das Militär von den ägyptischen Muslimbrüdern übernommen hat (die anders als er weggeputscht worden sind). „Pure fashism“, kommentierte dazu unser Fotograf lakonisch, als ich mir eine Rede übersetzen ließ.
Der Terror ist natürlich nicht nur bei Erdoğan, sondern auch bei meiner Arbeit als Korrespondent ein Thema. Die Gefahr von Anschlägen ist in Istanbul sehr real, gab es dieses Jahr doch alle paar Monate ein schweres Attentat in der Stadt – wahlweise von den Dschihadisten oder der kaum weniger fanatischen PKK. Doch hat man sich erst mal an die Kontrollen am Metroeingang und die Panzerwagen vor den Konsulaten gewöhnt, kann man die Gefahr auch schnell vergessen.
Während die Istanbuler zumeist fatalistisch mit der Terrorgefahr umgehen, hat sie die Touristen langfristig verschreckt. Die Blaue Moschee und andere Sehenswürdigkeiten sind heute bis auf einige chinesische Reisegruppen verwaist, im Bazar trinken die Verkäufer Tee und hoffen auf bessere Zeiten, wenn sie nicht schon pleite sind, während in Galata die Vermieter mangels Touristen händeringend langfristige Mieter für ihre Appartments mit Bosporusblick suchen.
So bin denn auch ich relativ günstig an meine Wohnung gekommen, von deren Fenstern ich morgens die Sonne über der asiatischen Seite aufgehen sehen kann. Da es zunächst kein Wasser, Strom oder Internet und auch sonst nichts in der Wohnung gab, bin ich rasch zum Stammgast im Galata Kitchen gegenüber und im Café an der Ecke geworden, wo ich mit Katze auf dem Schoß und Elektro im Hintergrund meine Artikel zu schreiben versuche.
Vom Anschlag am Besiktas-Stadion erfuhr ich paradoxerweise durch eine sms aus Deutschland (dafür war ich es bizarrerweise, der die Kollegen in Berlin zuerst auf das Attentat auf den Weihnachtsmarkt hinwies). Die Explosion war so heftig, dass eine Kollegin, die oberhalb vom Macka-Park wohnt, wo sich der zweite Attentäter in die Luft sprengte, an ein Erdbeben dachte, doch ist meine Wohnung so weit entfernt, dass mich erst die Sirenen aufmerksam werden ließen.
Einen zwei Meter tiefen Krater hinterließ die Bombe, 45 Menschen wurden durch die Explosion getötet und dutzende weitere zum Teil schwer verletzt. Es muss eine furchtbare Szene gewesen sein, doch erfuhren selbst wir Journalisten vom Horror des Anschlags nur wenig. Anders als vergangenes Jahr in Paris, wo ich tagelang Augenzeugenberichte aus dem Bataclan niederschrieb, drangen praktisch keine Einzelheiten des Geschehens an die Öffentlichkeit.
Auch wenn der Anschlagsort nur wenige hundert Meter von der Redaktion entfernt liegt, blieb das Ereignis damit merkwürdig abstrakt. Hatte ich in Paris am Tag nach den Anschlägen noch die Einschusslöcher in den Cafés, das umgestürzte Mobiliar und die Blutspuren auf dem Trottoir gesehen, blieb es in diesem Fall bei einem Blick aus der Ferne auf die Polizeiabsperrungen und einigen Fotos von der Kranzniederlegung vor dem Stadion.
Auch wenn das Leben weitergeht, ist die Stimmung doch gedrückt. Für die Türkei war 2016 mit dem Bürgerkrieg im Südosten, den vielen Anschlägen in den Städten und dem blutigen Putschversuch im Sommer ein düsteres Jahr und es gibt wenig Anzeichen, dass 2017 viel besser wird. Ging es den Türken früher darum, wie ein Politologe mir sagte, den Lebensstandard Europas zu erreichen, sind sie heute froh, wenn ihr Land kein neues Syrien oder Ägypten wird.
Die „Cumhuriyet“-Journalisten sitzen inzwischen seit bald 60 Tagen in Haft, und nichts deutet darauf hin, dass sie demnächst freikommen. Keine einfachen Zeiten, sich hier als Journalist zu etablieren. Doch so düster die politische Lage ist, so reicht doch eine Fahrt mit einer der alten Fähren über den Bosporus, während die Möwen nach den Krumen schnappen, die ihnen vom Achterdeck zugeworfen werden, um sich zu erinnern, welch wunderbare Stadt Istanbul noch immer ist.
30. Dezember 2016