Beobachtungen am Bosporus V.

Früher, ja früher war alles besser, stöhnt der Dinosaurier auf die Frage nach dem Ursprung seiner Schwermut. Aber wann war denn früher, fragt der Therapeut. Vor einer Woche, einem Jahr oder im letzten Jahrhundert? Nein, früher, stöhnt der Dinosaurier in dem Stück „Önce“ (Before) des portugiesischen Regisseurs Pedro Penim, in dem es um das nicht übersetzbare Gefühl des Hüzün geht, das auch Orhan Pamuks Istanbul-Romane prägt, in Penims Heimatstadt Lissabon als Saudade bekannt ist, und sich beiderorts als Sehnsucht nach einem Früher niederschlägt, das in einer sich ständig entziehenden Vergangenheit verortet wird, in der irgendwie alles besser war.

Nach dem Stück, das im November beim Istanbuler Theaterfestival zu sehen war, erzählte der Regisseur, dass er die Idee mit dem schwermütigen Dinosaurier und dem Therapeuten gehabt habe, als ihm wieder einmal türkische Freunde voll Melancholie von Früher erzählten. Das Publikum lachte, doch dann meldete sich ein Mann und meinte, das Stück habe ihm ja gut gefallen, aber der Portugiese müsse verstehen, dass früher tatsächlich alles besser gewesen sei, bevor vor 15 Jahren diese Regierung gekommen sei, die das Land direkt ins Mittelalter zurückführe.

Nun liegt das Mittelalter zwar früher, doch konnte man annehmen, dass der Mann diese Vergangenheit nicht meinte mit dem Früher, in dem noch alles gut war. Klar war zumindest, dass es in einer Zeit lag, bevor die frommen Türken um Erdoğan an die Macht gelangten und zum Leidwesen ihrer säkularen, westlichen Landsleute begannen, all die Errungenschaften zurückzudrehen, die die kemalistische Staatselite über die Jahrzehnte in der Gesellschaft durchgesetzt hatte.

Wann genau dieses Früher war, ist aber nicht leicht zu beantworten. Doch wohl nicht in den 90ern, als der Konflikt mit den Kurden das Land zu zerreißen drohte, in Polizeihaft routinemäßig gefoltert wurde, und Korruption und kriminelle Machenschaften die Regierung zerfraßen? Und doch auch nicht in den 80ern, die mit einem Militärputsch begannen, der als besonders brutal in Erinnerung geblieben ist, und die mit einer Eskalation der Gewalt in den Kurdengebieten endeten?

Aber sind wirklich die 70er gemeint, als sich links- und rechtsextreme Gruppen auf den Straßen bekämpften und in den Städten bürgerkriegsartige Zustände herrschten, bevor das Militär für Ruhe sorgte um den Preis, dass sich über Jahre in der Gesellschaft gar nichts mehr regte?

Als kürzlich bei einer Party ein älterer türkischer Kameramann zu mir meinte, früher sei alles besser gewesen, ergriff ich die Chance, einmal nachzufragen. Ja, wann genau war denn früher? Kurz stockte der Kameramann bei der Frage, dann meinte er, in den 90ern sei die Regierung gewiss auch nicht immer liberal und demokratisch gewesen, auch habe es Korruption, Instabilität und Gewalt gegeben, doch zumindest sei der Staat damals noch säkular und westlich gewesen.

Nun ist verständlich, dass die säkular und westlich orientierten Türken mit Besorgnis verfolgen, wie sich das Land unter Erdoğan vom Westen abwendet und der Islam als Richtschnur für Kultur, Politik und Gesellschaft wieder an Bedeutung gewinnt. Das Problem ist nur, dass die westliche und säkulare Ausrichtung des Landes niemals wirklich eine Mehrheit hatte, und die kemalistische Staatselite sie nur mit Zwang gegen große Teile des Volkes durchsetzen konnte.

Ihr war es egal, dass die meisten Türken Arabesque hören wollten, das Staatsradio spielte trotzdem europäische Klassik. Egal, dass die meisten Türken Freitags zum Gebet in die Moschee wollten, gesetzlicher Feiertag war Sonntag. Egal, dass die meisten Türkinnen Kopftuch trugen, an der Uni war es verboten. Und wenn die Mehrheit eine Regierung wählte, die den Kemalisten nicht passte, intervenierte das Militär. Entsprechend fühlten sich viele Türken nie ganz von diesem Staat vertreten.

Dies änderte sich erst, als mit Erdoğan ein Mann der konservativen Mehrheit an die Macht gelangte. Wenig überraschend ist sein Blick zurück eher düster. Früher, so betont er immer wieder in seinen Reden, war die Zeit der Arbeitslosigkeit, der Wirtschaftskrise und der instabilen Koalitionsregierungen. Früher war die Zeit ohne Autobahnen, Flughäfen und Hängebrücken, um die heute die ganze Welt die Türkei beneidet. Und früher gab es auch kein funktionierendes Krankensystem.

In diesem Moment seiner Reden zeigt Erdoğan gerne eine Doku aus den 90ern, als der heutige Oppositionsführer Kilicdaroglu für das Gesundheitswesen verantwortlich war, in der vermüllte Krankenhausflure, verzweifelte Familien und veraltete Operationssäle zu sehen sind, die das Publikum erschauern lassen, bevor Erdoğan auf ein mit euphorisierender Musik unterlegtes Werbevideo umschaltet, das all die ultramodernen Klinikkomplexe zeigt, die in seiner Amtszeit gebaut wurden.

Dennoch gibt es auch für Erdoğan und seine Anhänger ein Früher, an das sie voll Sehnsucht denken. Dies war eine Zeit, als die Türkei noch groß und mächtig war, und sich in Istanbul noch der Sitz des Kalifen aller Muslime befand. Besondere Verehrung bringt er Sultan Abdulhamit II. entgegen, der liberaleren Türken als besonders rückständiger Despot in Erinnerung geblieben ist, von Erdoğan aber dafür bewundert wird, dass er den Islam wieder ins Zentrum der Politik stellte.

Wollten die Kemalisten möglichst vollständig mit dem Osmanischen Reich brechen, ist es für Erdoğan und seine Anhänger eine wichtige historische Referenz. Zur Beunruhigung seiner Nachbarn lässt er immer wieder anklingen, wie sehr er das Ende des Osmanischen Reichs bedauert. Zuletzt irritierte er bei einem Besuch in Athen seine Gastgeber mit der Forderung, den Vertrag von Lausanne neu zu verhandeln, in dem 1923 die Grenzen der Türkei definiert worden waren.

Für Erdoğan also liegt das Goldene Zeitalter in der Zeit vor den Kemalisten, während es für die Kemalisten in der Zeit vor Erdoğan liegt. Für die meisten meiner Freunde und Bekannten hier jedoch liegt das Goldene Zeitalter viel näher. Für sie ist das Früher, an das sie voll Sehnsucht denken, die Zeit, als Erdoğan noch als Reformer gefeiert wurde, die Türkei noch als Modell für die Region galt, und Istanbul noch die Kultur- und Partymetropole war, in der alle sein wollten.

Interessanterweise ist es also eine Zeit, die erst mit Erdoğan begonnen hat, bevor er sie wieder selbst beendete. Wann genau sie endete, ist umstritten. Viele sehen die Gezi-Proteste im Sommer 2013 als Wendepunkt, andere verorten den Politikwechsel schon 2010. Klar ist, dass es mit der Wahl 2015 endgültig vorbei war, als Erdoğan die absolute Mehrheit verlor und sich mit den Ultranationalisten verbündete, um seinen Traum vom Präsidialsystem doch noch zu verwirklichen.

Wie schlimm es um Istanbul steht, wird derweil kontrovers diskutiert. Früher war Beyoglu noch viel cooler und wilder, sagt der eine und erinnert sich an Bars und Clubs, die es heute nicht mehr gibt. Dafür ist heute aber viel mehr los in Kadiköy und Besiktas, wendet daraufhin der andere ein. Davon weiß ich nichts, sagt der Dritte. Ich gehe nicht mehr aus, zu schwermütig stimmt mich der Vergleich zu früher. Doch da frage ich mich, war früher wirklich alles aufregender, oder wart nicht ihr damals einfach jünger? Früher, ja früher…

10. Dezember 2017

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